Auf der analytischen Ebene einer rechtswissenschaftlichen Arbeit erfolgt im Regelfall die Auslegung von Vorschriften. Das Ergebnis darf dabei nicht davon abhängen, was sich bestimmte Akteure wünschen oder was für Ansichten in Literatur und Rechtsprechung bestehen. Der Anspruch ist vielmehr, durch eine präzise Formulierung der offenen Fragen und eine fixierte Methodik einen genuinen Erkenntnisfortschritt zu leisten. Die Klärung des Bedeutungsgehalts einer Vorschrift erfordert beispielsweise die stringente und ergebnisoffene Anwendung der juristischen Auslegungsregeln.
I. Die Auslegungsregeln
Die juristischen Auslegungsregeln sind
- die grammatikalische Auslegung (Wortsinnauslegung),
- die systematische Auslegung,
- die historisch-genetische Auslegung und
- die Auslegung nach dem Normzweck (teleologische Auslegung).
1. Wortsinnauslegung
Die Wortsinnauslegung stellt die erste Auslegungsstufe dar [1]. (Teil‑)Ergebnisse der Auslegung sind nur zulässig, sofern sie sich unter den Wortsinn fassen lassen [2]. Er steckt die äußeren Grenzen vertretbarer Sinnvarianten ab und ist im Konfliktfall verschiedener Auslegungsmöglichkeiten der vorrangige Bezugspunkt für die Konkretisierung der Bedeutung [3]. Es ist beispielsweise unzulässig, die Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals alleine aus dem Gesetzesmaterial oder dem Normzweck herzuleiten, wenn sie nicht vom Wortsinn umfasst ist. Der Wortsinnauslegung kommt ein gehobener Stellenwert unter den Auslegungsregeln zu [4].
Falls ein Gesetz eine Legaldefinition des fraglichen Tatbestandsmerkmals enthält, ist sie maßgeblich. Wenn sich der Bedeutungsgehalt eines Tatbestandsmerkmals auch durch eine Legaldefinition nicht eindeutig bestimmen lässt, ist sie als Normtext anzusehen [5], d. h. ihre Tatbestandsmerkmale sind anhand der juristischen Auslegungsregeln zu interpretieren. Wenn nach der Wortsinnauslegung noch Fragen zum Bedeutungsgehalt offen sind, ist mit der systematischen Auslegung fortzufahren [6].
2. Systematische Auslegung
Die systematische Auslegung konkretisiert den Bedeutungsgehalt einer Vorschrift anhand ihres Zusammenhangs [7]. Der systematischen Auslegung liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen den Vorschriften eines Gesetzes ein sachlicher Zusammenhang besteht, der Aufschluss über die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals liefern kann [8]. Es geht darum, die Teilmenge der möglichen Bedeutungsvarianten, die nach der Wortsinnauslegung verblieben ist, anhand des Sinnzusammenhangs des Gesetzes weiter einzugrenzen.
Im Rahmen der systematischen Auslegung liegt der Schwerpunkt zunächst auf dem näheren Umfeld des Tatbestandsmerkmals. Die systematische Auslegung wird im Regelfall mit dem Absatz begonnen, in dem das Tatbestandsmerkmal zu verorten ist. In Abhängigkeit des verbleibenden Klärungsbedarfs wird die Auslegung auf das weitere Umfeld ausgeweitet – also beispielsweise den Paragraphen, dann den Gesetzesabschnitt und zuletzt das gesamte Gesetz. Kann ein Tatbestandsmerkmal auch anhand seiner Systematik nicht abschließend interpretiert werden, ist mit der historisch-genetischen Auslegung fortzufahren.
3. Historisch-genetische Auslegung
Die historisch-genetische Auslegung klärt den Bedeutungsgehalt eines Tatbestandsmerkmals anhand der Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Als Erkenntnisquellen kommen Gesetzentwürfe, Beratungsprotokolle und die den Entwürfen beigegebenen Begründungen, ggf. auch Parlamentsberichte infrage [9]. Auf jeden Fall ist auf die Materialien zur auszulegenden Vorschrift einzugehen [10]. Auch die Vorgeschichte – etwa Diskussionen im vorparlamentarischen Raum – kann bei der historisch-genetischen Auslegung herangezogen werden [11]. Soweit auch nach der historisch-genetischen Auslegung kein abschließendes Ergebnis vorliegt, ist die Auslegung auf den Normzweck auszuweiten.
4. Teleologische Auslegung
Die teleologische Auslegung erfolgt grundsätzlich anhand des aus dem Gesetz oder dem Gesetzesmaterial ersichtlichen Normzwecks [12]. Wird kein konkreter Normzweck genannt, ist die Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen [13]. Die historisch-genetische und die teleologische Auslegung erfüllen grundsätzlich eine unterstützende Funktion, da sie nicht direkt am Normtext ansetzen [14]. Sie bieten die Möglichkeit, die Teilmenge möglicher Bedeutungsvarianten im Falle einer mangelnden Konkretisierbarkeit durch Wortsinn und die Systematik auf weitere Erkenntnisquellen auszuweiten.
II. Hierarchisch gestufte Anwendung der Auslegungsregeln
Die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals endet, wenn ein abschließendes Auslegungsergebnis erzielt wurde. Es sind nicht zwangsläufig alle Auslegungsschritte zu durchlaufen. Die Anwendung des jeweils folgenden Auslegungsschrittes ist mit dem verbleibenden Klärungsbedarf zu begründen; es ist nicht erforderlich, ein abschließendes Auslegungsergebnis durch Anwendung weiterer Auslegungsschritte „abzusichern“. Unzulässig ist es, die Auslegungsschritte gleichrangig anzuwenden - etwa Teilergebnisse der einzelnen Auslegungsschritte zu einem Gesamtergebnis „aufzusummieren“.
III. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht
Auslegungsergebnisse sind daraufhin zu prüfen, ob sie mit höherrangigem Recht vereinbar sind. Ein Auslegungsergebnis, das nicht im Einklang mit höherrangigem Recht steht, ist grundsätzlich unzulässig.
IV. Interdisziplinarität bei der Auslegung
Die Heranziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen kann im Rahmen der Anwendung der juristischen Auslegungsregeln einen Beitrag leisten, den Bedeutungsgehalt eines Tatbestandsmerkmals zu spezifizieren. Denkbar ist auch, dass eine Vorschrift ein Tatbestandsmerkmal enthält, das eine Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen unumgänglich macht. Das ist beispielsweise der Fall, wenn als normativer Maßstab auf den "Stand der Technik" verwiesen wird, elektromagnetische "Störungen" zu Bauverboten führen oder autonome Fahrfunktionen Verkehrsvorschriften beachten müssen. Prinzipiell besteht auf allen Auslegungsstufen die Möglichkeit für eine interdisziplinäre Betätigung.
Endnoten
[1] Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 59; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141, 149, 153; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 304
[2] Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143, 145; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 310, 439; Reimer, Juristische Methodenlehre, Rn. 310; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 39, 50; BVerfG, Beschl. v. 10.1.1995 – 1 BvR 718/89, BVerfGE 92, 1-25 = NJW 1995, 1141: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.“
[3] Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 310, 438
[4] Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 440
[5] Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 526
[6] Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 194; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 149, 153
[7] Smeddinck, Rechtliche Methodik, S. 8
[8] Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 146
[9] Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 151; Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 68
[10] Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 68
[11] Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 67
[12] Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 74
[13] Wank, Auslegung von Gesetzen, S. 74
[14] Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, Rn. 440
Literatur
Kramer, Ernst A., Juristische Methodenlehre, 4. Auflage, Bern 2013
Larenz, Karl/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, Berlin/Heidelberg 1995
Müller, Friedrich/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band I: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Auflage, Berlin 2013
Reimer, Franz, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016
Wank, Rolf, Die Auslegung von Gesetzen, 6. Auflage, München 2015
Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012
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